"Dieses Haus ist meine Bestimmung"

Ingrida Šilgalytė fühlt sich wie zu Hause im Plunge Kunst Museum

Fotos und Text von Annika Kiehn, Mai 2022

Im Herbst 2021 war es endlich so weit: Nach mehr als einem Jahr warten, stand einer Reise durch Litauens Gutshauskulturlandschaft nichts mehr im Weg und ich freute mich wie verrückt. Zu meiner Entzückung war ich in bester Gesellschaft: Kein Geringerer als der Gutshaus-Experte Manfred Achtenhagen würde mich begleiteten. Obendrein würde er mir den Komfort eines persönlichen Chauffeurs erweisen, und ich war glücklich, in diesen fünf intensiven Tagen quer durch ein mir fremdes Land mit ihm einen unterhaltsamen und vertrauensvolleren Reisepartner an meiner Seite wissen zu dürfen.

Manfred Achtenhagen ist nicht nur Inhaber des Romantikhotels Ludorf, außerdem auch erfahrener Gutshaus-Makler und Begründer und Vorstand des Vereins Guts- und Herrenhäuser Mecklenburg-Vorpommern. Mit der Initiative des Vereins wurde dieses EU-Interreg-Projekts South Baltic Manors maßgeblich angeschoben, welches mir das Privileg verschaffte, die unterschiedlichsten Gutsanlagen rund um die Ostsee kennenlernen zu dürfen.

Die Arbeit im Plunge Kunst Museum
Sie hätte auch in Vilnius bleiben können. Doch nachdem Ingrida Šilgalytė dort ihr Studium für kulturelles Management abgeschlossen hatte, entschied sie sich, stattdessen wieder zurück in ihre Heimat gehen. Am Kunstmuseum in Plungė, wo samogotische und zeitgenössische Werke aus der ganzen Welt ausgestellt werden, hat sie ihre Bestimmung gefunden – und freut sich, wenn sie ihre Begeisterung an Ihre Gäste weitergeben darf.

Ein Schmelztiegel der samogitischen, litauischen und internationalen Kunst

Im September 2021 also fuhren wir durch die Region Telšiai im Northwesten Litauens, auf unserem Weg nach Plungė. Die Straße zog sich durch weite Wiesen und Wälder. Ab und an schreiften wir Dörfer, die  einerseits von schrumpeligen alten Holzhäusern, andererseits von modern anmutenden Betonhäusern durchzogen waren. Rückblickend gesehen passt der Satz von Ingrida Šilgalytė, den wir eine kleine Weile später persönlich von ihr im Plungė Kunstmuseum hören werden: Als sie während ihrer jüngsten Reise durch Schottland die intakten, pittoresken Dörfer dort, bewunderte, sei ihr bewusst geworden: „So schön könnten unsere Dörfer auch heute noch aussehen, wenn wir nicht dermaßen von fremden Regierungen beeinflusst worden wären.“ Ich verstand, was sie meinte: Auch in Mecklenburg-Vorpommern, wie im gesamten Bereich der ehemaligen DDR, sind bis heute die Auswirkungen des kommunistischen Pragmatismus zu erkennen. Wie würden unsere Gutsdörfer wohl heute aussehen, wenn die russische Armee sie nicht zweckmäßig in ihrer ursprünglichen Schönheit beraubt hätten?
Doch noch eine Sache treibt mich um, während wir so durch diese entlegene Region fuhren: Was machen die jungen Leute hier nur in dieser Pampa? Bestimmt können sie es kaum erwarten, bis sie volljährig sind und in die Stadt ziehen dürfen.

Jedenfalls dachte ich das damals, als gerade 18-Jährige. Das Reisen war mein Ausgleich geworden zu der Beschaulichkeit, die ich während des Heranwachsens genoss. Ein wunderbarer Gegensatz. Doch in all den Jahren, in denen ich später woanders lebte, hielt ich stets das Band zu meiner Heimat. Als Journalistin habe ich dort meine Nische gefunden, in der ich meine Themen finde. Manchmal fühle ich mich schon wie eine Chronistin, was ich irgendwie mag, weil es mir Verbundenheit schenkt zu diesem Landstrich. Für diese Art der Zuneigung haben wir Deutschen ja das schöne Wort „Heimat“. Manfred Achtenhagen erklärte es Ingrida gegenüber folgendermaßen: „Es meint nicht unbedingt den Ort, wo Du aktuell lebst, sondern eher den Ort, mit dem Du Dich tief in Deinem Herzen verbunden fühlst, weil Du dort in Deiner Kindheit prägende Jahre verbracht hast. Diese Liebe nimmst Du überall mit hin.“

„Das Leben in Vilnius ist großartig und aufregend, und für einen Kultur-affinen Menschen wie mich natürlich eine endlose Quelle der Inspiration. Es ist leicht, dort gut zu leben, aber nicht für mich“

Ingrida Šilgalytė nickte zustimmend, als wir uns vis-à-vis darüber austauschten. Als die im Herbst 2021 28 Jahre alte junge Frau ihre Heimatstadt Salantai verließ, 20 Kilometer von der Stadt Plungė entfernt, um in der Hauptstadt Vilnius Kultur-Management zu studieren, meinten ihre Mitmenschen: „Wenn Du erst einmal dort bist, kommst Du eh nicht wieder!“ Doch sie sollten falsch liegen. „Das Leben in Vilnius ist großartig und aufregend, und für einen Kultur-affinen Menschen wie mich natürlich eine endlose Quelle der Inspiration. Es ist leicht, dort gut zu leben, aber nicht für mich“, erklärt sie uns mit energischer Stimme.

Während sie uns an einem sonnigen Dienstagvormittag durch die Ausstellungsräume führt, spüren wir ihre mitschwingende Leidenschaft, die uns verrät: Hier ist sie voll und ganz in ihrem Habitat. Mit einem nicht enden wollenden Lächeln erklärt sie uns die bewegende Geschichte dieses mondänen Gutshauses, das einst als Sitz der Adelsfamilie Ogiński diente. In diesen Tagen dient es als Kunstmuseum und Festspielort für Konzerte, Schauplatz von Hochzeiten. Ingrida ist hier für die Eventplanung zuständig und die Bildungsarbeit.

Das gesamte Anwesen Plungė beläuft sich auf eine Größe von rund 52 Hektar

Das Haus, 1879 im Stil der Neo-Renaissance erbaut, gleicht einem Phoenix aus der Asche. Der grau-weißen Fassade ist längst nicht mehr anzusehen, welch’ aufwühlende Vergangenheit hinter ihm liegt. Der Geist des letzten Besitzers Mykolas Ogińskis ist allgegenwärtig in zahlreichen Ölportraits und Fotos aus alten Zeiten.

Die Polnisch-Litauische Aristokratenfamilie besaß in ganz Litauen weitreichenden Einfluss.  Die Linie endet mit dem Tod von Mykolas Ogińskis 1902. Seine kinderlose Witwe Maria Ogiński beschließt daraufhin, zurück nach Polen zu ziehen. Die folgenden Jahre setzen dem Gutshaus arg zu – ohne Bewohner vogelfrei geworden, wird es zunehmend von Zerstörung und Vandalismus heimgesucht, bis es Ende des Zweiten Weltkriegs schließlich niedergebrannt wird. Fotos zeugen von dem erbärmlichen Zustand des Gebäudes in der kleinen Ausstellung über die Geschichte der einstigen Gutsanlage Plungė und wir können kaum glauben, dass wir uns in demselben Haus befinden, nun mit neuen Parkettböden, neu gestrichenen Wänden.

Das gesamte Anwesen beläuft sich auf eine Größe von rund 52 Hektar. Dass es uns heutzutage möglich, seine Pracht zu erleben, liegt zwei Wundern zugrunde: Das Erste geschah 1966, als die Gemeinde Plungė sich entschied, die Ruine wieder auferstehen zu lassen und es als Schule zu nutzen. Dieser Entschluss förderte das zweite Wunder, das kurz nach dem Ende des Kalten Kriegs eintrat: Fortan sollte das Haus hiesige  und internationale, zeitgenössische Kunstschätze bergen. Seit 1994 öffnete die einstige Ogiński-Residenz als Museum und hat seither mehr als 50 000 Besucher pro Jahr angezogen. Es dürfte den ehemaligen Besitzer freuen, der zu Lebzeiten ein großer Förderer der Musik war.

Doch was genau hat es mit der Kultur der Žemaiten auf sich, fragen Manfred Achtenhagen und ich uns. Ingrida macht eine kurze Pause und erzählt uns von einer ethnischen Minderheit, die seit Jahrhunderten im Nordwesten Litauens ansässig ist. Auf Litauisch heißt die Sprache  Žemaitija. „Wir sind so etwas wie eine autonome Provinz. Wir hatten schon immer unsere eigenen Fürsten und eigene Flaggen und niemand vom Rest aus Litauen wagte es, sich mit uns anzulegen“, sagt Ingrida mit einer Mischung aus Stolz und Fröhlichkeit. „Der Samogitische Bär, zum Beispiel, verkörpert die langjährige Geschichte dieser Kultur, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht und vermutlich sogar noch weiter. Vor den großen Eingangstoren, die in den Park führen, stehen zwei Bären, die das Wappen der Ogiński Familie halten. Zu ihnen gesellen sich vier Ritter aus dem 16. Jahrhundert.“ Neuerdings erlebe die Kultur der Samogiten neuen Aufwind, sogar einen eigenen Reisepass gäbe es, der aber nur symbolischen Charakter habe.

Mit seinen wechselnden Ausstellungen trägt das Kunstmuseum Plungė dazu bei, die hiesige Künstlerinnen und Künstler dieser kleinen Ethnie zu unterstützen, die alle vier Jahre bei der Weltausstellung ihren Höhepunkt findet. Manfred Achtenhagen und ich kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dieser Ort ist so abwechslungsreich auf einem hohen Niveau und das mitten im Nirgendwo Litauens. Ingrida guckt uns derweil mit entschuldigenden Augen an: Sie habe noch einige wichtige Vorbereitungen zu treffen und müsse los. Wir verabschieden uns von ihr und ziehen allein weiter durch die Räume.

Zwischen 2010 und 2015 konnte der Innenausbau des Hauses mithilfe von Staatsgeldern aus Litauen und finanzieller Hilfe aus der EU voranschreiten. In der Bibliothek finden wir viele alte originale Bücher, die einst den Ogińskis gehört haben. Ingrida hatte uns im Vorfeld erklärt, dass die ein gutes Zeichen sei: „Wir nehmen an, dass das Ehepaar Ogiński sehr beliebt gewesen sein muss bei seinen Mitarbeitern, daher haben sie das Interieur verwahrt und es nicht einfach auf dem Flohmarkt verkauft.“

Dieser Ort ist so abwechslungsreich auf einem hohen Niveau und das mitten im Nirgendwo Litauens.

Kein Aufwand schien zu groß gewesen, um die ehemalige Residenz der Familie würdig wieder auferlegen zu lassen. Dank eines ganz besonderen Schatzes, den sie im Garten versteckt fanden, konnten die Restauratoren erahnen, wie sie vor dem Brand ausgehen haben mag. „In den Fundamenten des ursprünglichen Gebäudes fanden die Mitarbeiter eine Zeitkapsel mit historischen Plänen der Inneneinrichtung. Daher konnten wir erahnen, dass die Paneelen im Erdgeschoss mit Gravuren versehen waren und dass der große Salon einst als Sportraum für die Schulkinder diente. Anhand der alten Pläne entwickelte das Team eine neue Gestaltung für die repräsentativen Räume unten, angelehnt an den Stil der neuen Renaissance“, hatte uns Ingrida gleich zu Beginn unserer Führung erklärt.

Die Zeitkapsel ist nun wieder an derselben Stelle vergraben für kommende Generationen, ergänzt mit neuem Material über Kriegszeiten und die jüngsten Entwicklungen als Museum. 2019 gelang es dem Management, eine Kopie der Memoiren zu bekommen, verfasst von Maria Ogiński. Darin beschreibt sie ebenfalls detailliert, wie der Palast ausgesehen hat, als sie noch darin lebte. „Wir wissen daher, dass sie ein nostalgischer Typ war, der neuen Dingen wenig abgewinnen konnte und daher Antiquitäten aus ganz Europa kaufte.“

Kontrast zwischen dem historischen Flair des Hauses und den zeitgenössischen Kunstwerken

Der Kontrast zwischen dem historischen Flair des Hauses und den zeitgenössischen Kunstwerken aus dem 20. und 21. Jahrhundert erzeugt einen eklektischen Flair in den Räumen. Die meisten Exponate sind Leihgabe der Künstler. Leise im Hintergrund ertönt Klaviermusik. Zwischen  1879 und 1902 befand sich auf dem Anwesen eine Orchesterschule, begründet von Mykolas Ogiński. In den Jahren von 1889 und 1893 war der spätere berühmte litauische Maler und Komponist Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875–1911) dort Schüler gewesen. Darüber hinaus zeigt sich das Plungė Museum weltoffen und sucht regelmäßig nach Kooperationen aus dem Ausland. Eine außergewöhnliche Ausstellung niederländischer Maler verzückt zum Zeitpunkt unseres Besuchs unser Gemüt. Leider erlauben unsere weiteren Reisepläne nicht, einem der Sommerkonzerte lauschen zu dürfen, die jedes Jahr im Rahmen des International Mykolas Ogińskis Festivals einen Monat lang erklingen, beginnend am letzten Wochenende im August. Jedes Konzert, verrät uns Ingrida, beginne traditionell mit der Polonaise von Mykolas Ogińskis Großvater Mykolas Kleopas Ogiński (Michał Kleofas Ogiński 1765 – 1833) „Farewell to My Homeland

Wie es scheint, bietet ihr Arbeitsplatz alles, was Ingrida möchte: Heimatverbundenheit und eine Brücke zur internationalen Kunstszene. Als Mitglied einer Viking re-enactment Bewegung gibt Ingrida Workshops zu alten Webtechniken, wie sie uns auf ihrem Instagram-Account zeigt. Bei Mittelalter-Festivals und Märkten kleidet sie sich nach historischem Vorbild der frühen Samogitier in der Hoffnung, andere für die Zeit begeistern zu können. Die archäologische Ausstellung im Untergeschoss hat sie entwickelt, wie sie uns verriet „Ich bin ein Geschichtsnerd, ich bin nicht nur hier, um herumzustehen und gut aussehen“ sagt sie mit einem frechen Grinsen. „Ich liebe es, am Wochenende mal nach Vilnius zu fahren, aber hier in Plungė bin voll in meinem Element.“

Žemaičiai Art Museum

Das Samogitische Kunstmuseum in Plungė (Žemaičiai Art Museum) in der ehemaligen Residenz von Mykolas Oginskis stellt seit 1994 Exponate von vornehmlich Samogitischer Künstler aus, um das Facettenreichtum der ethnischen Minderheit zu unterstützen. Neben der malerischen Kulisse der einstigen Gutsanlage dürfen sich Besucher erfreuen an hochwertigen Arbeiten aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Das Museum hat ganzjährig geöffnet.

Mehr Informationen auf der Website des Museums.

 

Zurück

More Articles from our Travelblog about the Baltic Manors

Epilog

Ich sitze am Flughafen von Vilnius im schönen Litauen und habe noch ein paar Stunden vor mir, bis mein Flieger zurück nach Berlin geht.

Weiterlesen …

Das eiserne Herz im Gutshaus Pederstrup

Seit die historische Kochstelle des Reventlow-Museums in Lolland einer aufwendigen Restaurierung  unterzogen wurde, können Angestellte und Besucher gleichermaßen Kochtraditionen des 19. Jahrhunderts ausprobieren.

Weiterlesen …

Die Gutshaus Retter aus der Parseta Region

Manchmal wird Dir das Glück aufgezwungen. Nun könnte man argumentieren, dass das Glück von Natur aus durch den Zufall bestimmt wird, aber ich denke, das ist nur halb wahr.

Weiterlesen …

Verliebt ins Gutshausleben

Raus aus Berlin, aufs Land, um dort einen Neuanfang zu starten – das war der Plan von Grundschullehrer Dirk Lagall und des gelernten Schauspieler Uwe Eichler im Jahr 2014.

Weiterlesen …

Ein Schloss für alle: Svaneholm

Mit dem Space Pioneer, den sogenannten Raumpionieren, kam in den 90er Jahren ein Begriff auf, der für einen markanten Wandel in Dörfern steht.

Weiterlesen …

Hugo Scheu Museum

Isn’t it true that each of us has a small collection of things we like? When we hand them to the next generation or sell them on eBay or at a flea market, we all add up to a living museum of cultural goods

Weiterlesen …

Liebe Christina Piper,...

Brief an die ungekrönte Gutsherrin von Schloss Christinehof - Ansichten über Schwedens Feminismus im 18. Jahrhundert

Weiterlesen …

Der Weinrebell vom Gut Frederiksdal

Wenn etwas zu Ende geht, gibt es immer eine Chance für etwas Neues...

Weiterlesen …

Literatur über Gutshäuser

Ein gutes Buch über Gutshäuser für den nächsten Landurlaub.

Weiterlesen …

Wurzeln schlagen auf Gut Jackowo

Ein Mutter-Tochter-Gespann findet seine Bestimmung auf einer verlassenen Gutsanlage

Weiterlesen …

Das Zeitzeugen Projekt im Schloss Schmarsow

Ein Buch mit Geschichten der Zeitzeugen über Schloss Schmarsow in Vorpommern.

Weiterlesen …

Vom Lehrerehepaar zu Raumpionieren

Lehrer der ehemaligen Schule in Polen retten das Gutshaus.

Weiterlesen …